Nägelkauen — auch als Onychophagie bezeichnet — zählt ebenfalls zu den „körperbezogenen sich wiederholenden Verhaltensweisen” (body-focused repetitive behaviors, BFRBs). Der Begriff „Onychophagie“ setzt sich aus den griechischen Wörtern „onychos“ für Nagel und „phagein“ für essen/kauen zusammen. Onychophagie zeichnet sich durch wiederholtes Kauen oder Beißen an den eigenen Fingernägeln aus. Das Verhalten wird bei den Betroffenen bewusst („focused biters“) oder unbewusst („automatic biters“) ausgeübt. Onychophagie kann zu (chronischen) Schäden, z.B. Entzündungen des Nagelbetts oder Nagelwuchsstörungen, führen.
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Diagnose
In dem aktuellen Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM-5) wird zwanghaftes Nägelkauen als körperfokussierte, sich wiederholende Verhaltensweise unter der Kategorie „Zwangsstörungen und verwandte Störungen“ geführt (APA, 2013).
Erkrankungsalter
Das Nägelkauen tritt gewöhnlich nicht vor dem 4. bis 5. Lebensjahr auf und verstärkt sich im Laufe der Kindheit und Jugend (Halteh et al., 2017; Siddiqui & Qureshi, 2020; Winebrake et al., 2018). Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei 9 Jahren (Moritz et al., 2023).
Krankheitshäufigkeit
Allgemeinbevölkerung
Studien zufolge sind ungefähr 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens wenigstens einmal von Onychophagie betroffen (Halteh et al., 2017; Lee & Lipner, 2022; Pacan et al., 2014). In einer eigenen, bereits erwähnten Studie mit 1.481 Teilnehmenden zeigten 11 Prozent im Laufe ihres Lebens Nägelkauen mit sichtbaren Folgen (Moritz et al., 2024). In dieser Studie berichteten insgesamt sogar 71 Prozent, im Laufe Ihres Lebens schon einmal an den Nägel gekaut zu haben (nicht unbedingt mit physischen oder psychischen Problemen verbunden). Die wahre Häufigkeit des Auftretens wird jedoch wahrscheinlich unterschätzt, da sich viele Betroffene zu sehr schämen, um von der Störung zu berichten, und daher die Untersuchung und die Behandlung vermeiden (Erdogan et al., 2021; Ghanizadeh, 2008). Zudem wissen viele nicht, dass es für die Störung Behandlungsmöglichkeiten gibt, also das Gesundheitssystem für diese „doofe Angewohnheit” zuständig und auch hilfreich ist, und wenden sich aus diesem Grund nicht an eine Fachperson.
Kindheit/Jugendalter
Etwa 45 Prozent der Kinder im Alter von 10 Jahren bis zur Pubertät sind von einer Onychophagie betroffen (Halteh et al., 2017). Weiteren Studien zufolge kauen 37 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 21 Jahren und etwa 29 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis 20 Jahren an den Nägeln (Erdogan et al., 2021; Winebrake et al., 2018).
Erwachsenenalter
Keine oder eine falsche Behandlung der Störung im Kindesalter kann dazu beitragen, dass sich die Störung auch im Erwachsenenalter fortsetzt. Laut Befunden leiden ungefähr 19,2 Prozent der jungen Erwachsenen im Alter von 21 bis 26 Jahren sowie 21,5 Prozent der Erwachsenen im Alter von 18 bis 35 Jahren unter Onychophagie (Halteh et al., 2017). Insgesamt nehmen die Prävalenzen mit zunehmendem Alter ab. In unserer Studie waren es im Alter von 18 bis 39 Jahren 62 Prozent, die von Nägelkauen berichteten und im Alter ab 40 nur noch etwa 24 Prozent (Moritz et al., 2024)
Geschlechtsunterschiede
Bezüglich des Geschlechts ist die Studienlage nicht eindeutig. Während manche Studien von einer höheren relativen Häufigkeit bei männlichen Personen ausgehen, berichten andere von mehr betroffenen weiblichen Personen oder konnten keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellen (Moritz et al., 2024; Pacan et al., 2014).
Erscheinungsformen
Der Übergang von normalem Verhalten zu einer Störung tritt dann ein, wenn der entstehende Schaden deutlich sichtbar ist und das Verhalten erhebliches Leiden oder eine Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen verursacht (z.B. das Empfinden starker Scham; Vermeidung, anderen Menschen die Hand zu geben).
Anders als bestimmte andere Impulskontrollstörungen ist das Nägelkauen schwer zu verheimlichen: Abgekaute Nägel, kurze/unebene Nagelbetten, fehlende Nagelhaut und verfärbte Fingerkuppen sind für andere oft deutlich sichtbar. Onychophagie ist häufig mit Schmerzen, Anspannung vor oder bei dem Versuch, dem Verhalten zu widerstehen, Lustgefühlen nach dem Kauen und psychischem Stress verbunden. Das Verhalten hat einerseits einen selbstverletzenden Anteil, anderseits kann für manche Betroffene damit aber auch ein Gefühl der Befriedigung (z.B. Spannungsabbau) einhergehen, weshalb es einigen Personen schwerfällt, die Gewohnheit zu unterlassen.
Folgen
Die Folgen des Nägelkauens sind vielfältig: Sie reichen von Schuldgefühlen und Scham bis zu erheblichen Schäden an Nagelhaut und Nägeln und vernarbten Nagelfalzen. Wenn die Haut um den Nagel blutig gekaut wird, kann es in bestimmten Fällen auch zu Infektionen und Entzündungen kommen, die das Nagelwachstum beeinträchtigen.
Literatur
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Erdogan, H. K., Arslantas, D., Atay, E., Eyuboglu, D., Unsal, A., Dagtekin, G. & Kilinc, A. (2021). Prevalence of onychophagia and its relation to stress and quality of life. Acta dermatovenerologica Alpina, Pannonica, et Adriatica, 30(1), 15–19. https://doi.org/10.15570/actaapa.2021.4
Ghanizadeh A. (2008). Association of nail biting and psychiatric disorders in children and their parents in a psychiatrically referred sample of children. Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health, 2(1), 13. https://doi.org/10.1186/1753-2000-2-13
Halteh, P., Scher, R. K. & Lipner, S. R. (2017). Onychophagia: a nail-biting conundrum for physicians. Journal of Dermatological Treatment, 28(2), 166–172. https://doi.org/10.1080/09546634.2016.1200711
Lee, D. K. & Lipner, S. R. (2022). Update on diagnosis and management of onychophagia and onychotillomania. International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(6), 3392. https://doi.org/10.3390/ijerph19063392
Moritz, S., Penney, D., Mißmann, F., Snorrason, I. & Schmotz, S. (2023). Same but different? Phenomenological differences among various types of body-focused repetitive behaviors. Annals of Clinical Psychiatry, 35(4). https://doi.org/10.12788/acp.0123
Moritz, S., Scheunemann, J., Jelinek, L., Penney, D., Schmotz, S., Hoyer, L., Grudzień, D. & Aleksandrowicz, A. (2024). Prevalence of body-focused repetitive behaviors in a diverse population sample – rates across age, gender, race and education. Psychological Medicine, 54(8), 1552–1558. https://doi.org/10.1017/S0033291723003392
Pacan, P., Grzesiak, M., Reich, A., Kantorska-Janiec, M. & Szepietowski, J. C. (2014). Onychophagia and onychotillomania: prevalence, clinical picture and comorbidities. Acta Dermato-Venereologica, 94(1), 67–71. https://doi.org/10.2340/00015555-1616
Siddiqui, J. A. & Qureshi, S. F. (2020). Onychophagia (Nail Biting): an overview. Indian Journal of Mental Health, 7(2). 97–104. https://doi.org/10.30877/ijmh.7.2.2020.97-104
Starace, M., Cedirian, S., Alessandrini, A., Bruni, F., Piraccini, B. & Iorizzo, M. (2023). Self-induced nail disorders (SINDs): What do we know so far? Annales De Dermatologie Et De Vénéréologie, 150(4), 253–259. https://doi.org/10.1016/j.annder.2023.05.005
Winebrake, J. P., Grover, K., Halteh, P. & Lipner, S. R. (2018). Pediatric onychophagia: a survey-based study of prevalence, etiologies, and co-morbidities. American Journal of Clinical Dermatology, 19(6), 887–891. https://doi.org/10.1007/s40257-018-0386-1